Liebe VAMV Mitglieder, Liebe Interessierte,

nachdem unser Fachtag am 11. Juli 24 „Im Zweifel für das Kind- hochstrittige Eltern vor Gericht“ auf eine sehr hohe Beteiligung und reges Interesse gestoßen ist, möchte ich Sie / Euch heute auf die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum pseudowissenschaftlichen Konstrukt der Eltern-Kind-Entfremdung vom (Beschluss des BVerfG vom 17.11.2023 – BvR 1076/23) hinweisen:

Im entschiedenen Fall hatte die Mutter von zwei 2012 und 2016 geborenen Kindern Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts erhoben, mit der das Oberlandesgericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder ohne Anhörung der Kinder und entgegen den Beurteilungen des Verfahrensbeistandes und des Gutachters aus dem Vorverfahren auf den Vater übertragen hatte. Zur Begründung führte es an, dass die Übertragung dieses Teilbereichs der elterlichen Sorge auf den Vater trotz der Ablehnung von Kontakten mit dem Vater durch die Kinder derzeit dem Kindeswohl am besten entspreche, um einer weiteren Entfremdung entgegenzuwirken. Angesichts des fortdauernden Verhaltens der Mutter zu Lasten beider Kinder habe das Gericht inzwischen erhebliche Zweifel an ihrer Erziehungsfähigkeit. Die Mutter hatte zeitweilig keine Umgangskontakte des Vaters mit den Kindern mehr zugelassen, da die Kinder keinen Kontakt mehr wollten. Wegen der Weigerung wurden mehrere Ordnungsmittelverfahren gegen die Mutter geführt.

Das Bundesverfassungsgericht sah in dieser Entscheidung einen Verstoß gegen das Elterngrundrecht der Mutter aus Art 6 Abs. 2 S. 1 GG.

In seiner Begründung führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass die bei Entscheidungen über die Übertragung des Sorgerechts erforderliche Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorranging am Kindeswohl zu orientieren sei. Ferner stellte das Gericht fest: An einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung fehle es, wenn die Entscheidung maßgeblich damit begründet werde, dass ein Elternteil dem anderen die Kinder entfremde, denn damit werde auf das überkommene und fachwissenschaftlich als widerlegt geltende Konzept des sogenannten Parental Alienation Syndrom (PAS) zurückgegriffen. Soweit ersichtlich bestehe nach derzeitigem Stand der Fachwissenschaft kein empirischer Beleg für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils oder für die Wirksamkeit einer Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt des angeblich manipulierenden Elternteils. Mit anderen Worten: Wenn ein Kind den Umgang mit dem anderen Elternteil ablehnt, ist dies keineswegs zwingend auf eine Beeinflussung durch den betreuenden Elternteil zurückzuführen, sondern kann eine Vielzahl von Ursachen haben. Des Weiteren ist ein Wechsel des Lebensmittelpunktes des Kindes vom betreuenden zum abgelehnten Elternteil (Umplatzierung) kein taugliches Mittel, um einer (weiteren) „Entfremdung“ von Elternteil und Kind vorzubeugen bzw. sie abzubauen.

Zur Beachtlichkeit des Kindeswillens führte das Bundesverfassungsgericht aus: dem Willen eines knapp zwölf Jahre alten Kindes komme grundsätzlich nicht unerhebliche Bedeutung zu. Erscheine der Wille ernsthaft, stabil und zielorientiert, müsse die Entscheidung erkennen lassen, worauf das Familiengericht die für sich in Anspruch genommene fachliche Expertise stützt, dass der Wille des Kindes seinen wahren Bindungen oder seinem Wohl nicht entspricht.

Den Link zur vollständigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts findet Ihr hier:

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2023/11/rk20231117_1bvr107623.pdf?__blob=publicationFile&v=1

Herzliche Grüße

Brigitte Rösiger